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Ein wahres Geschenk ist mehr als das bloße Objekt; es ist ein Zeichen des Verständnisses und der Fürsorge; darin spiegeln sich gleichzeitig die gebende und die empfangende Person.
Magister Glax Othn,
Gekürzte Vorlesungen für das Haus Taligari
Tyros Reffa schritt zwischen grünen Farnen über einen Pfad auf seinem Anwesen und studierte die Schriftzeichen auf der laminierten Karte, die er in der Hand hielt. Er bemühte sich, die rätselhaften Piktogramme zu entziffern. Diese Herausforderung war ganz nach seinem Geschmack. Die Sonne von Zanovar schien durch das Blätterdach und ließ gesprenkelte Schatten auf der Karte tanzen. Verblüfft blickte er zu seinem verehrten Lehrer und Freund auf, dem Magister Glax Othn.
»Wenn du die Worte nicht lesen kannst, Tyros, wirst du dieses Geschenk niemals würdigen können.« Obwohl nur noch wenige Mitglieder der Taligari-Familie am Leben waren, gehörte der Magister zu einer langen Reihe von Lehrmeistern, die das Lehen vom letzten traditionellen Adelsherrn geerbt hatten und es unter dem ursprünglichen Namen fortführten. Er und Reffa hatten am gleichen Tag den Namen erhalten, auch wenn sie durch einen Abgrund von mehreren Jahrzehnten getrennt waren, der wiederum durch eine dauerhafte Freundschaft überbrückt wurde.
Kolibris und juwelengleiche Schmetterlinge flatterten zwischen den schwankenden Farnwedeln und jagten sich gegenseitig in farbenfrohen Flugmanövern. Hoch oben in den schuppigen Bäumen war ein Singvogel zu hören, der wie eine alte, schlecht geölte Tür quietschte.
»Möge das Schicksal mich vor einem ungeduldigen Lehrer bewahren.« Reffa war Mitte vierzig, von stämmigem Körperbau, aber athletischer Beweglichkeit. In seinen Augen stand eine wache Intelligenz. »Hier ist das Zeichen für den Hof von Taligari ... eine Aufführung ... berühmt und geheimnisvoll ...« Plötzlich sog er den Atem ein. »Es ist eine Eintrittskarte für die Suspensor-Oper! Ja, jetzt kann ich es entziffern!«
Der Magister hatte ihm nur ein Ticket gegeben, da er wusste, dass Reffa allein gehen würde. Begeistert und begierig würde er die Erfahrung mit allen Sinnen aufnehmen. Der alte Mann besuchte schon lange keine Aufführungen auf anderen Welten mehr. Da er nur noch wenige Jahre zu leben hatte, plante er sorgfältig seine verbleibende Zeit und zog es vor, zu meditieren und zu unterrichten.
Reffa ging noch einmal sämtliche Schriftzeichen auf der Eintrittskarte durch. »Diese Legitimation gestattet mir den Zugang zu den erleuchteten Tanks des Taligari-Zentrums im sagenhaften Artisia. Man lädt mich ein, einer illuminierten Tanzaufführung beizuwohnen. Die unterschwellige Sprache schildert die emotionalen Aspekte der langwierigen und verwickelten Kämpfe während des Interregnums.« Mit dem Finger fuhr er die ungewohnten Hieroglyphen entlang und war stolz auf seine Fähigkeiten.
Sein hagerer Mentor nickte voller Zufriedenheit. »Es heißt, dass nur einer von fünfhundert Zuschauern die Nuancen dieses großartigen Stücks verstehen kann – aber nur mit größter Aufmerksamkeit und sorgfältigster Vorbereitung. Trotzdem wirst du die Aufführung bestimmt um ihrer selbst willen genießen wollen.«
Reffa umarmte den Magister. »Ein wunderbares Geschenk, Meister!« Sie bogen vom breiten gepflasterten Weg auf einen kleineren Kiespfad ab. Hier knirschte es bei jedem Schritt unter ihren Sandalen. Reffa liebte jeden Winkel seines bescheidenen Anwesens.
Vor mehreren Jahrzehnten hatte Imperator Elrood den Magister beauftragt, sein illegitimes Kind unter besten Bedingungen, aber im Geheimen aufzuziehen. Er sollte leben, wie es eines Angehörigen der Corrinos würdig war, ohne dass ihm irgendwelche Hoffnungen auf sein imperiales Erbe gemacht wurden. Der Magister hatte Reffa gelehrt, größeren Wert auf Qualität als auf Extravaganzen zu legen.
Glax Othn betrachtete die feinen Gesichtszüge des jungen Mannes. »Es gibt noch einen zweiten Grund, Tyros, einen ernsteren Grund, warum es klug wäre, wenn du dich für eine Weile auf Taligari aufhältst. Du solltest dein Anwesen eine Zeit lang verlassen ... nur für ein oder zwei Monate.«
Reffa blickte den Magister prüfend an. »Ist das ein neues Rätsel für mich?«
»Bedauerlicherweise keins, das deinem Vergnügen dient. In den vergangenen zwei Wochen haben mehrere Personen recht ausführliche Erkundigungen über dich und deinen Landbesitz eingezogen. Das ist auch dir aufgefallen, nicht wahr?«
Reffa zögerte, da er immer noch keinen Anlass zu ernsthafter Besorgnis sah. »Es waren völlig harmlose Erkundigungen, Meister. Ein Mann interessierte sich für Grundstücke auf Zanovar und deutete sogar an, vielleicht meinen Besitz erwerben zu wollen. Ein anderer war ein Meistergärtner, der sich meine Gewächshäuser ansehen wollte. Der dritte ...«
»Alle waren Spione des Imperators«, schnitt Othn ihm das Wort ab, und Reffa verstummte sofort. »Ich war misstrauisch und entschied, sie überprüfen zu lassen«, fuhr der Lehrer fort. »Die Identitäten, die sie angaben, waren falsch, und alle drei kamen von Kaitain. Es hat mich einige Anstrengungen gekostet, aber dann konnte ich zweifelsfrei ermitteln, dass diese Männer ihren Lohn aus geheimen Kassen des Imperators Shaddam erhalten.«
Reffa schürzte die Lippen und unterdrückte den Drang, etwas Unbedachtes zu erwidern. Der Magister würde ihn nur auffordern, selber über die Konsequenzen nachzudenken. »Also haben alle gelogen. Der Imperator sammelt Informationen über mich und mein Zuhause. Warum – nach all den Jahren?«
»Offensichtlich, weil er erst jetzt von deiner Existenz erfahren hat.« Der Magister setzte eine ernste Miene auf und sprach mit peinlich genauer Betonung, wie er es während der großen Vorlesungen getan hatte, die er einst in riesigen Hörsälen voller Studenten gehalten hatte. »Aus dir hätte etwas ganz anderes werden können, Tyros Reffa. Und du hättest es allein aus dem Grund verdient, weil du gar nicht danach strebst. Es ist in gewisser Weise ein imperiales Paradoxon. Du befindest dich möglicherweise in großer Gefahr.«
Der Magister wusste, dass der junge Mann sein zurückgezogenes Leben fortsetzen musste und keine Aufmerksamkeit auf sich lenken durfte. Der Bastard von Elrood IX. war niemals eine Bedrohung für Kaitain gewesen, er hatte niemals irgendwelche Ansprüche auf den Goldenen Löwenthron erhoben oder auch nur das geringste Interesse gezeigt, sich in die Politik des Imperiums einzumischen.
Stattdessen trat Reffa viel lieber vor Theaterpublikum auf und spielte unter Pseudonym in verschiedenen Ensembles von anderen Welten. Er hatte die Schauspielkunst bei den Mimbanco-Lehrern des Hauses Jongleur erlernt, den größten Unterhaltungskünstlern des Imperiums. Ihre Darsteller waren so begabt, dass sie jedes Publikum zu intensivsten Gefühlen hinreißen konnten. Der junge Reffa hatte eine wunderbare Zeit auf Jongleur verbracht, und der Magister war sehr stolz auf die Leistungen seines Zöglings gewesen.
Reffa erstarrte. Es war ihnen nicht gestattet, solche Angelegenheiten zu besprechen, nicht einmal unter vier Augen. »Kein Wort mehr zu diesem Thema. Ja, ich werde mich nach Taligari begeben.« Dann fuhr er etwas ruhiger fort: »Aber Sie haben mein Vergnügen an diesem wunderbaren Geschenk getrübt. Kommen Sie, ich will Ihnen zeigen, welche Überraschung ich an unserem Tag der Namensgebung für Sie vorbereitet habe.« Trotz seiner Worte blieb sein Gesichtsausdruck bekümmert.
Reffa blickte auf die Eintrittskarte in seiner Hand und dann mit einem Lächeln auf den alten Mann. »Sie haben mir beigebracht, Meister, dass der Akt des Schenkens zehnmal so viel Freude bereitet, wenn er erwidert wird.«
Der Magister täuschte Verblüffung vor. »Im Augenblick haben wir andere Sorgen. Ich habe keine Geschenke nötig.«
Reffa nahm seinen Mentor am knochigen Ellbogen und führte ihn durch eine Hecke aus Federbäumen, hinter der sich ein größerer Platz öffnete. »Ich auch nicht. Aber keiner von uns beiden nimmt sich die Zeit, kleine Vergnügungen zu genießen, es sei denn, man zwingt uns dazu. Versuchen Sie gar nicht erst, die Wahrheit meiner Worte abzustreiten. Ich habe auch für Sie etwas vorbereitet. Schauen Sie, da ist Charence.«
Der mürrisch dreinblickende Hausmeister stand auf der gegenüberliegenden Seite der gepflasterten Fläche vor einem scharlachroten Pavillon und wartete auf sie. Charence wirkte stets schlecht gelaunt, aber er war tüchtig und hatte einen knochentrockenen Humor, den Reffa sehr schätzte.
Beschämt folgte Glax Othn dem untersetzten jungen Mann in den Pavillon. Auf einem Tisch im Schatten stand ein kleines Päckchen. Charence hob es auf und reichte es dem Magister.
Othn nahm es zögernd entgegen. »Was könnte ich mir wünschen? Außer mehr Zeit und mehr Wissen? Dass es dir weiterhin gut geht.« Mit einer Mischung aus Verwunderung und Begeisterung riss der alte Lehrer die Geschenkverpackung auf. Dann reagierte er zutiefst verblüfft, als er den glänzenden Gegenstand betrachtete. Es war ein Ausweis-Chip aus Kristall, eine Zugangsberechtigung für einen Tag. »Ein Vergnügungspark mit Karussells, Ausstellungen und Spannungssimulatoren?«
Als Charence seine Reaktion sah, musste sogar er lächeln.
»Der beste Park von ganz Zanovar«, sagte Reffa. »Alle Kinder sind davon begeistert.« Er strahlte. Er hatte den Park persönlich besucht, um sich davon zu überzeugen, dass die Attraktion auf gar keinen Fall zu den Orten gehörte, die der stets ernste Magister schon einmal aufgesucht hatte.
»Aber ich habe gar keine Kinder«, protestierte er. »Das Geschenk ist eigentlich gar nicht für mich, richtig?«
»Genießen Sie die Erfahrung. Seien Sie wieder jung im Herzen. Sie haben immer wieder betont, dass neue Erfahrungen für jeden Menschen lebensnotwendig sind.«
Der Magister errötete. »Das sage ich zu meinen Studenten, aber ... Wollen Sie mir beweisen, dass ich in Wirklichkeit ein Heuchler bin?« Seine braunen Augen funkelten.
Reffa lächelte. »Gönnen Sie sich das Vergnügen, als kleine Entschädigung für alles, was sie für mich getan haben.« Er legte eine Hand auf die Schulter des alten Mannes. »Und wenn ich in ein oder zwei Monaten wohlbehalten von Taligari zurückkehre, können wir unsere neuen Erfahrungen vergleichen – was Sie im Vergnügungspark erlebt haben und wie es mir in der Suspensor-Oper ergangen ist.«
Der alte Lehrer nickte nachdenklich. »Darauf freue ich mich schon, mein Freund.«